Die zweite Welle brechen

Die zweite Welle brechen

  1. Oktober 2020

Seit Samstag, 17.10. 0 Uhr, herrscht in Frankreich wieder der Gesundheitsnotstand. Auch in Deutschland treten in diesen Tagen neue Verordungen in Kraft, die zum Ziel haben, Kontakte zwischen Menschen zu beschränken — alles, um das exponentielle Wachstum der Corona-Infektionen in den letzten Wochen zu stoppen. Am Mittwoch waren die neuen Maßnahmen in Berlin und Paris angekündigt worden.

“Wir stehen vor einer Jahrhundertherausforderung”, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwochabend, nachdem sie acht Stunden lang mit den Regierungschefs der Länder über die alarmierende Lage bei der Corona-Pandemie beraten hatte. Neue Maßnahmen sollten her, möglichst bundeseinheitlich, um die “exponentielle Phase” bei den Neuinfektionen zu beenden, “sonst nimmt es kein gutes Ende.” Etwa zwei Stunden zuvor hatte Präsident Emmanuel Macron in einem Fernsehinterview die Wiedereinführung des Gesundheitsnotstands in ganz Frenkreich angekündigt, um die Kontrolle über die “zweite Welle” zurückzuerlangen. Deutschland und Frankreich sind, wie andere europäische Länder auch, inmitten der zweiten Welle der Pandemie, die jetzt gebrochen werden muß, wenn die Menschen Weihnachten im größeren Familienkreis verbringen wollen.

Die wichtigste Botschaft, die beide, Merkel und Macron, an ihre Bevölkerungen richten, lautete: “Nichts ist so wichtig wie die Einhaltung der Regeln”, sagte die Kanzlerin. Und mehrmals betonte der Präsident: “Il faut respecter les règles”, auch die “règle de bon sense”. Die aktive Befolgung der Regeln durch die gesamte Bevölkerung ist das A und O der neuen Maßnahmen, die auf beiden seiten des Rheins beschlossen wurden.

Freilich sind die Maßnahmen sehr unterschiedlich, denn auch die Lage in beiden Ländern unterscheidet sich sehr. Anders als der französische Präsident hat die Kanzlerin nicht viel zu sagen in diesen Fragen. Die Länder treffen die einschneidenden Entscheidungen, erlassen die Schutzverordnungen, und trotz aller Bekundungen des Willens zu größtmöglicher Einheitlichkeit, handeln die Landesregierungen weiter recht unterschiedlich. Deshalb war die Kanzlerin “noch nicht zufrieden” mit dem Ergebnis der langen Beratungen. Besonders das Thema “Beherbergungsverbot” hat die Länder entzweit. Eine Einigung wurde auf den 8. November vertagt, dem Ende der letzten Herbstferien in Bayern. Und schon jetzt haben Gerichte diese Maßnahmen in drei Bundesländern bereits aufgehoben; mehrere Landesregierungen haben sie wieder zurückgezogen. Im übrigen werden die Stimmen im Bundestag lauter, daß das Parlament endlich einbezogen werden müsse.

Hauptziel der Regierungschefs war, die neue Infektionswelle zu brechen, indem die Kontakte der Bevölkerung gezielt reduziert werden und so die Nachverfolgbarkeit solcher Kontakt wieder möglich wird. Versammlungen von Menschen im öffentlichen und im privaten Raum werden nun schon in Kreisen weiter eingeschränkt, in denen 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche gemeldet werden (nicht erst bei 50). Außerdem sollen Sperrstunden in der Gastronomie um 23 Uhr und zusätzliche Auflagen wie Alkoholverbot und Kontrollen eingeführt werden. Bei mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner –dies ist die bisherige Schwelle zum “hot spot”– ergreifen die Länder “zielgerichtete und überregional vergleichbare” weitere Beschränkungen. Das ist die “Ampel”, auf die sich nun alle verständigt haben: Grün bei Infektionen bis 35 = Einhaltung der AHA-Regeln; gelb bis 50 = Kontaktbegrenzungen; und rot über 50 pro 100.000 Einwohner = weitere Einschränkungen. Das ist die Zahl, die von den Gesundheitsämtern noch zu schultern ist. Außerdem haben sich die Länder auf eine Musterverordnung für Quarantäne bei Grenzüberschreitungen geeinigt, die so gestaltet ist, daß vor allem die unrühmlichen Grenzschließungen vom Frühjahr vermieden werden können. In zehn Tagen wollen die Kanzlerin und die Länderchefs wieder beraten.

Der Gesundheitsnotstand in Frankeich geht viel weiter. Bei zuletzt 30.000 Neuinfektionen pro Tag kommt das Gesundheitssystem wieder an seine Grenzen. Die Regierung stellt aber nicht, wie im Frühjahr, das ganze Land unter Quarantäne, sondern verordnet eine Ausgangssperre von 21 Uhr bis 6 Uhr für die gesamte Pariser Region Ile de France, sowie acht Metropolen: Grenoble, Lille, Lyon, Aix-Marseille, St. Etienne, Toulouse, Montpellier, Rouen. Insgesamt 20 Millionen Franzosen benötigen ab Samstag, 17.10., wieder einen Berechtigungsschein, wenn sie sich nach 21 Uhr auf die Straße begeben wollen. Es gibt viele Ausnahmen (Arbeit, Betreuung Angehöriger, Gassi-Gehen, etc.) und über Ausnahmen werde pragmatisch entschieden, versicherte Premierminister Jean Castex in seiner Pressekonferenz am Donnerstag. Aber es werden auch 12.000 zusätzliche Polizeikräfte mobilisiert, deren einzige Aufgabe es sein wird, die nächtliche Ausgangsperre zu kontrollieren. Bei Zuwiderhandlung ist eine Geldstrafe von 135 € fällig, bei Wiederholung 1.500 €, und beim dritten Mal können bis zu 3.750 € und sechs Monate Gefängnis fällig werden.

Für das gesamte Land allerdings gilt, ebenfalls ab Samstag, 17.10., 0 Uhr, ein Verbot jeglicher privater Feiern in öffentlichen Räumen, eine Beschränkung der Anzahl von Besuchern in Restaurants, Theatern, Kinos, etc. bei strikten Hygieneregeln, wie bisher Maskenpflicht am Arbeitsplatz in geschlossenen Räumen, sowie die Aufforderung an Arbeitgeber, wo immer möglich, Arbeitszeiten zu verschieben, um den Berufsverkehr zu entzerren, sowie eine Mindestdauer von Telearbeit zu ermöglichen. Diese einschneidenden Maßnahmen werden begleitet von weiteren Hilfsprogrammen zur Unterstützung der betroffenen Branchen, der Verlängerung des Kurzarbeitsgeldes, Hilfsprogrammen für Jugendliche zur Berufsausbildung oder im Übergang zur Arbeitsaufnahme, sowie zusätzlichen Prämien für das Pflegepersonal.

Die Dauer des Gesundheitsnotstands ist gesetzlich auf vier Wochen beschränkt, kann aber vom Parlament verlängert werden. Macron kündigte an, daß die Regierung eine Verlängerung auf sechs Wochen bis zum 1. Dezember beantragen werde. Aber auch in Paris wird nach zwei Wochen überprüft, ob die beschlossenen Maßnahmen greifen oder ob sie noch verschärft werden müssen.

Zum Ende seines 45-Minuten-Interviews bekräftigte Macron, daß der “Conseil scientifique” eine entscheidende Rolle bei den Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie spiele. Will sagen: “Wir hören auf den Rat der Wissenschaft”. Und er appellierte an die Bevölkerung mitzumachen. Die Pandemie könne noch bis zum nächsten Sommer dauern. D.P.

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